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KI Anwendungen - wenn der Einsatz einer Versetzung gleichkommt

Ein humanoider Roboter und ein Mann sitzen an einem Tisch mit Papieren und Notizen. Hintergrund mit Regal. Ernsthafte Stimmung.
Ein Roboter ersetzt einen Menschen bei der Arbeit und studiert aufmerksam Dokumente am Schreibtisch, während er mit einem Mann gegenüber kommuniziert.

KI verändert Arbeitsplätze in rasantem Tempo - von der Programmierung bis zur Sachbearbeitung. Für Betriebsräte stellt sich die Frage: Ab wann müssen wir wie handeln? Die "50%-Regel" markiert dabei nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich beginnt die Mitbestimmung viel früher.


Der Paradigmenwechsel: Von der Produktion ins Büro

Was früher Roboter in der Fertigung waren, ist heute KI in der Wissensarbeit. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Laut McKinsey (2024) könnten bis 2030 54% der administrativen Bürotätigkeiten transformiert werden. Besonders betroffen sind hochqualifizierte Tätigkeiten:

  • Ingenieure: KI übernimmt Berechnungen, Simulationen und Konstruktionsoptimierung

  • Programmierer: GitHub Copilot schreibt 40% des Codes selbstständig

  • Controller: Automatisierte Datenanalyse ersetzt Excel-Marathons

  • Sachbearbeiter: Routineprüfungen laufen algorithmengesteuert

Die Bitkom-Studie 2024 zeigt: 20% der deutschen Unternehmen nutzen bereits aktiv KI. Die Transformation ist keine Zukunftsmusik - sie läuft jetzt.


Das Stufenmodell der Mitbestimmung: Mehr als nur Versetzung

Die "50%-Regel" fokussiert auf § 95 Abs. 3 BetrVG (Versetzung), doch die Mitbestimmungsrechte beginnen viel früher. Je nach Intensität der Veränderung greifen unterschiedliche Rechtsgrundlagen:


Stufe 1: Technische Einrichtung (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG)

Ab dem ersten Tag der KI-Einführung

  • Jede KI ist eine technische Einrichtung zur Überwachung

  • Erzwingbare Mitbestimmung von Anfang an

  • Betriebsvereinbarung über Zweck, Umfang und Nutzung


Stufe 2: Arbeitsplatzgestaltung (§ 90 BetrVG)

Bei spürbarer Veränderung der Arbeit (ab ca. 20%)

  • Unterrichtungs- und Beratungsrechte

  • Einfluss auf ergonomische und menschengerechte Gestaltung

  • Präventive Gestaltungsmöglichkeiten


Stufe 3: Qualifizierung (§§ 96-98 BetrVG)

Sobald neue Kompetenzen erforderlich werden

  • Mitbestimmung bei Bildungsmaßnahmen

  • Anspruch auf präventive Qualifizierung

  • Gestaltung der Weiterbildungsinhalte


Stufe 4: Versetzung (§ 95 Abs. 3 BetrVG)

Bei grundlegender Tätigkeitsänderung (Richtwert: 50%)

  • Zustimmungspflicht nach § 99 BetrVG

  • Möglichkeit der Verweigerung

  • Einigungsstelle erzwingbar


Stufe 5: Betriebsänderung (§§ 111-112 BetrVG)

Bei Umstrukturierung ganzer Abteilungen

  • Interessenausgleich und Sozialplan

  • Umfassende Gestaltungsrechte

  • Nachteilsausgleich für Betroffene


Die 50%-Regel bei KI Anwendungen - wenn der Einsatz einer Versetzung gleichkommt


Die Faustformel "ab 50% liegt Versetzung vor" stammt aus der praktischen BR-Arbeit. Sie basiert auf der Überlegung: Wenn sich mehr als die Hälfte der Arbeit ändert, handelt es sich faktisch um einen anderen Job.


Wichtig: Das Bundesarbeitsgericht verwendet keine feste Prozentzahl. Die BAG-Entscheidung vom 9.4.2019 (1 ABR 25/17) betont das "Gesamtbild der Tätigkeit". Der Fitting-Kommentar (32. Aufl. 2024, § 95 Rn. 36) nennt bereits 20% Veränderung als möglichen Indikator.

Die 50%-Regel markiert somit den spätesten Zeitpunkt zum Handeln - nicht den frühesten bei KI Anwendungen - wenn der Einsatz einer Versetzung gleichkommt.


Konkrete Beispiele aus der betrieblichen Praxis

Beispiel 1: Der Entwicklungsingenieur (Automobilindustrie)


Vorher:

  • 40% Konstruktion in CAD

  • 30% Berechnungen und Simulationen

  • 20% Dokumentation

  • 10% Meetings und Abstimmung


Nach KI-Einführung:

  • 10% CAD-Kontrolle (KI generiert Grundkonstruktionen)

  • 50% Optimierung und Innovation

  • 30% Validierung von KI-Vorschlägen

  • 10% Meetings


Bewertung: Kernkompetenz verschiebt sich von Konstruktion zu Bewertung → Versetzung wahrscheinlich


Beispiel 2: Der Software-Entwickler


Vorher:

  • 60% Programmierung

  • 20% Debugging

  • 20% Dokumentation


Nach GitHub Copilot:

  • 30% Programmierung komplexer Logik

  • 40% Code-Review und Qualitätssicherung

  • 30% Architektur und Konzeption


Bewertung: Vom Coder zum Software-Architekten → qualitative Versetzung


Beispiel 3: Die Controllerin


Vorher:

  • 60% Datenanalyse in Excel

  • 30% Berichtserstellung

  • 10% Präsentationen


Nach KI-Tools:

  • 20% Datenvalidierung

  • 50% strategische Interpretation

  • 30% Stakeholder-Beratung


Bewertung: Neue Haupttätigkeit → eindeutige Versetzung


Handlungsmatrix für Betriebsräte

Phase 1: Erste KI-Ankündigung (§ 87 Abs. 1 Nr. 6)


Sofort handeln:

  • Information über technische Details einfordern

  • Datenschutzaspekte klären

  • Betriebsvereinbarung vorbereiten

  • Pilotphase vereinbaren


Phase 2: 20-30% Veränderung (§ 90)


Gestaltung beginnen:

  • Arbeitsplatzanalyse durchführen

  • Ergonomische Aspekte prüfen

  • Qualifizierungsbedarf ermitteln

  • Betroffene einbeziehen


Phase 3: 30-50% Veränderung (§§ 96-98)


Intensiv begleiten:

  • Tätigkeitsprofile dokumentieren

  • Qualifizierung konkretisieren

  • Entgeltprüfung vorbereiten

  • Versetzungskriterien beobachten


Phase 4: Über 50% Veränderung (§ 95)


Mitbestimmung durchsetzen:

  • Versetzung feststellen lassen

  • Zustimmung nach § 99 prüfen

  • Alternative Einsatzmöglichkeiten

  • Besitzstandswahrung


Phase 5: Strukturelle Transformation (§§ 111-112)


Umfassend verhandeln:

  • Interessenausgleich

  • Sozialplan

  • Zukunftskonzepte


Frühwarnsignale erkennen

Achten Sie auf diese Indikatoren:


  • IT-Budget für "KI-Projekte" oder "Digitalisierung"

  • Stellenausschreibungen mit KI-Skills

  • Externe Berater für "Prozessoptimierung"

  • Pilotprojekte in einzelnen Abteilungen

  • Schulungen zu "neuen Tools"


Praktische Werkzeuge und Unterstützung

Dokumentationsvorlage

Die Hans-Böckler-Stiftung bietet Muster für Tätigkeitsanalysen. Erfassen Sie:


  • Aktuelle Aufgaben mit Zeitanteilen

  • Benötigte Qualifikationen

  • Verantwortungsbereiche

  • Entscheidungsbefugnisse


Gewerkschaftliche Unterstützung


Rechtliche Expertise

Nach § 80 Abs. 3 BetrVG können Sie bei KI automatisch Sachverständige hinzuziehen - nutzen Sie dieses Recht frühzeitig!


Kritische Reflexion: Die Grenzen der Quantifizierung

Die Fokussierung auf Prozentsätze birgt die Gefahr, qualitative Dimensionen zu übersehen:


  • Verantwortungsverschiebung: Vom Entscheider zum Kontrolleur

  • Kompetenzentwertung: Wenn Erfahrungswissen obsolet wird

  • Autonomieverlust: Von selbstbestimmter zu fremdgesteuerter Arbeit


Diese Aspekte lassen sich nicht in Prozenten messen, sind aber oft entscheidender als quantitative Veränderungen.


Fazit: Proaktiv statt reaktiv

Die 50%-Regel ist weder Gesetz noch der Startpunkt für BR-Aktivität. Sie markiert vielmehr den Punkt, an dem spätestens gehandelt werden muss. Die Mitbestimmung beginnt mit dem ersten Tag der KI-Planung.


Die Herausforderung: KI transformiert hochqualifizierte Tätigkeiten mit einer Geschwindigkeit, die traditionelle Mitbestimmungsprozesse überfordert.


Die Chance: Mit dem gestuften Ansatz können Betriebsräte von Anfang an gestalten statt nur zu reagieren. Nutzen Sie die gesamte Palette Ihrer Rechte - von § 87 bis § 112 BetrVG.


Der Imperativ: Warten Sie nicht auf die 50%. Wenn KI ins Spiel kommt, sind Sie vom ersten Tag an gefragt.

 
 
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