KI Anwendungen - wenn der Einsatz einer Versetzung gleichkommt
- Wilke Witte
- 24. Mai
- 4 Min. Lesezeit

KI verändert Arbeitsplätze in rasantem Tempo - von der Programmierung bis zur Sachbearbeitung. Für Betriebsräte stellt sich die Frage: Ab wann müssen wir wie handeln? Die "50%-Regel" markiert dabei nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich beginnt die Mitbestimmung viel früher.
Der Paradigmenwechsel: Von der Produktion ins Büro
Was früher Roboter in der Fertigung waren, ist heute KI in der Wissensarbeit. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Laut McKinsey (2024) könnten bis 2030 54% der administrativen Bürotätigkeiten transformiert werden. Besonders betroffen sind hochqualifizierte Tätigkeiten:
Ingenieure: KI übernimmt Berechnungen, Simulationen und Konstruktionsoptimierung
Programmierer: GitHub Copilot schreibt 40% des Codes selbstständig
Controller: Automatisierte Datenanalyse ersetzt Excel-Marathons
Sachbearbeiter: Routineprüfungen laufen algorithmengesteuert
Die Bitkom-Studie 2024 zeigt: 20% der deutschen Unternehmen nutzen bereits aktiv KI. Die Transformation ist keine Zukunftsmusik - sie läuft jetzt.
Das Stufenmodell der Mitbestimmung: Mehr als nur Versetzung
Die "50%-Regel" fokussiert auf § 95 Abs. 3 BetrVG (Versetzung), doch die Mitbestimmungsrechte beginnen viel früher. Je nach Intensität der Veränderung greifen unterschiedliche Rechtsgrundlagen:
Stufe 1: Technische Einrichtung (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG)
Ab dem ersten Tag der KI-Einführung
Jede KI ist eine technische Einrichtung zur Überwachung
Erzwingbare Mitbestimmung von Anfang an
Betriebsvereinbarung über Zweck, Umfang und Nutzung
Stufe 2: Arbeitsplatzgestaltung (§ 90 BetrVG)
Bei spürbarer Veränderung der Arbeit (ab ca. 20%)
Unterrichtungs- und Beratungsrechte
Einfluss auf ergonomische und menschengerechte Gestaltung
Präventive Gestaltungsmöglichkeiten
Stufe 3: Qualifizierung (§§ 96-98 BetrVG)
Sobald neue Kompetenzen erforderlich werden
Mitbestimmung bei Bildungsmaßnahmen
Anspruch auf präventive Qualifizierung
Gestaltung der Weiterbildungsinhalte
Stufe 4: Versetzung (§ 95 Abs. 3 BetrVG)
Bei grundlegender Tätigkeitsänderung (Richtwert: 50%)
Zustimmungspflicht nach § 99 BetrVG
Möglichkeit der Verweigerung
Einigungsstelle erzwingbar
Stufe 5: Betriebsänderung (§§ 111-112 BetrVG)
Bei Umstrukturierung ganzer Abteilungen
Interessenausgleich und Sozialplan
Umfassende Gestaltungsrechte
Nachteilsausgleich für Betroffene
Die 50%-Regel bei KI Anwendungen - wenn der Einsatz einer Versetzung gleichkommt
Die Faustformel "ab 50% liegt Versetzung vor" stammt aus der praktischen BR-Arbeit. Sie basiert auf der Überlegung: Wenn sich mehr als die Hälfte der Arbeit ändert, handelt es sich faktisch um einen anderen Job.
Wichtig: Das Bundesarbeitsgericht verwendet keine feste Prozentzahl. Die BAG-Entscheidung vom 9.4.2019 (1 ABR 25/17) betont das "Gesamtbild der Tätigkeit". Der Fitting-Kommentar (32. Aufl. 2024, § 95 Rn. 36) nennt bereits 20% Veränderung als möglichen Indikator.
Die 50%-Regel markiert somit den spätesten Zeitpunkt zum Handeln - nicht den frühesten bei KI Anwendungen - wenn der Einsatz einer Versetzung gleichkommt.
Konkrete Beispiele aus der betrieblichen Praxis
Beispiel 1: Der Entwicklungsingenieur (Automobilindustrie)
Vorher:
40% Konstruktion in CAD
30% Berechnungen und Simulationen
20% Dokumentation
10% Meetings und Abstimmung
Nach KI-Einführung:
10% CAD-Kontrolle (KI generiert Grundkonstruktionen)
50% Optimierung und Innovation
30% Validierung von KI-Vorschlägen
10% Meetings
Bewertung: Kernkompetenz verschiebt sich von Konstruktion zu Bewertung → Versetzung wahrscheinlich
Beispiel 2: Der Software-Entwickler
Vorher:
60% Programmierung
20% Debugging
20% Dokumentation
Nach GitHub Copilot:
30% Programmierung komplexer Logik
40% Code-Review und Qualitätssicherung
30% Architektur und Konzeption
Bewertung: Vom Coder zum Software-Architekten → qualitative Versetzung
Beispiel 3: Die Controllerin
Vorher:
60% Datenanalyse in Excel
30% Berichtserstellung
10% Präsentationen
Nach KI-Tools:
20% Datenvalidierung
50% strategische Interpretation
30% Stakeholder-Beratung
Bewertung: Neue Haupttätigkeit → eindeutige Versetzung
Handlungsmatrix für Betriebsräte
Phase 1: Erste KI-Ankündigung (§ 87 Abs. 1 Nr. 6)
Sofort handeln:
Information über technische Details einfordern
Datenschutzaspekte klären
Betriebsvereinbarung vorbereiten
Pilotphase vereinbaren
Phase 2: 20-30% Veränderung (§ 90)
Gestaltung beginnen:
Arbeitsplatzanalyse durchführen
Ergonomische Aspekte prüfen
Qualifizierungsbedarf ermitteln
Betroffene einbeziehen
Phase 3: 30-50% Veränderung (§§ 96-98)
Intensiv begleiten:
Tätigkeitsprofile dokumentieren
Qualifizierung konkretisieren
Entgeltprüfung vorbereiten
Versetzungskriterien beobachten
Phase 4: Über 50% Veränderung (§ 95)
Mitbestimmung durchsetzen:
Versetzung feststellen lassen
Zustimmung nach § 99 prüfen
Alternative Einsatzmöglichkeiten
Besitzstandswahrung
Phase 5: Strukturelle Transformation (§§ 111-112)
Umfassend verhandeln:
Interessenausgleich
Sozialplan
Zukunftskonzepte
Frühwarnsignale erkennen
Achten Sie auf diese Indikatoren:
IT-Budget für "KI-Projekte" oder "Digitalisierung"
Stellenausschreibungen mit KI-Skills
Externe Berater für "Prozessoptimierung"
Pilotprojekte in einzelnen Abteilungen
Schulungen zu "neuen Tools"
Praktische Werkzeuge und Unterstützung
Dokumentationsvorlage
Die Hans-Böckler-Stiftung bietet Muster für Tätigkeitsanalysen. Erfassen Sie:
Aktuelle Aufgaben mit Zeitanteilen
Benötigte Qualifikationen
Verantwortungsbereiche
Entscheidungsbefugnisse
Gewerkschaftliche Unterstützung
IG Metall: Transformationsatlas mit Branchenfokus
ver.di: KI-Handlungshilfe
Rechtliche Expertise
Nach § 80 Abs. 3 BetrVG können Sie bei KI automatisch Sachverständige hinzuziehen - nutzen Sie dieses Recht frühzeitig!
Kritische Reflexion: Die Grenzen der Quantifizierung
Die Fokussierung auf Prozentsätze birgt die Gefahr, qualitative Dimensionen zu übersehen:
Verantwortungsverschiebung: Vom Entscheider zum Kontrolleur
Kompetenzentwertung: Wenn Erfahrungswissen obsolet wird
Autonomieverlust: Von selbstbestimmter zu fremdgesteuerter Arbeit
Diese Aspekte lassen sich nicht in Prozenten messen, sind aber oft entscheidender als quantitative Veränderungen.
Fazit: Proaktiv statt reaktiv
Die 50%-Regel ist weder Gesetz noch der Startpunkt für BR-Aktivität. Sie markiert vielmehr den Punkt, an dem spätestens gehandelt werden muss. Die Mitbestimmung beginnt mit dem ersten Tag der KI-Planung.
Die Herausforderung: KI transformiert hochqualifizierte Tätigkeiten mit einer Geschwindigkeit, die traditionelle Mitbestimmungsprozesse überfordert.
Die Chance: Mit dem gestuften Ansatz können Betriebsräte von Anfang an gestalten statt nur zu reagieren. Nutzen Sie die gesamte Palette Ihrer Rechte - von § 87 bis § 112 BetrVG.
Der Imperativ: Warten Sie nicht auf die 50%. Wenn KI ins Spiel kommt, sind Sie vom ersten Tag an gefragt.