§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und die Mitbestimmung bei KI-Systemen
- Wilke Witte
- 18. Jan.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Jan.

Die Digitalisierung und der verstärkte Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in Unternehmen haben erheblichen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen. Aus datenschutz- und mitbestimmungsrechtlicher Sicht werden hierbei oft die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats relevant, insbesondere in sozialen Angelegenheiten nach § 87 BetrVG. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, der bei der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen einschlägig ist. In diesem Blogartikel schauen wir uns an, was das konkret bedeutet und warum diese Norm für KI-Systeme im Betrieb so wichtig ist.
1. Was genau regelt § 87 BetrVG?
§ 87 Mitbestimmungsrechte
(1) Der Betriebsrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen:
Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb;
Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage;
vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit;
Zeit, Ort und Art der Auszahlung der Arbeitsentgelte;
Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplans sowie die Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Arbeitnehmer, wenn zwischen dem Arbeitgeber und den beteiligten Arbeitnehmern kein Einverständnis erzielt wird;
Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen;
Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften;
Form, Ausgestaltung und Verwaltung von Sozialeinrichtungen, deren Wirkungsbereich auf den Betrieb, das Unternehmen oder den Konzern beschränkt ist;
Zuweisung und Kündigung von Wohnräumen, die den Arbeitnehmern mit Rücksicht auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses vermietet werden, sowie die allgemeine Festlegung der Nutzungsbedingungen;
Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere die Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und die Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung;
Festsetzung der Akkord- und Prämiensätze und vergleichbarer leistungsbezogener Entgelte, einschließlich der Geldfaktoren;
Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen;
Grundsätze über die Durchführung von Gruppenarbeit; Gruppenarbeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn im Rahmen des betrieblichen Arbeitsablaufs eine Gruppe von Arbeitnehmern eine ihr übertragene Gesamtaufgabe im Wesentlichen eigenverantwortlich erledigt;
Ausgestaltung von mobiler Arbeit, die mittels Informations- und Kommunikationstechnik erbracht wird.
(2) Kommt eine Einigung über eine Angelegenheit nach Absatz 1 nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat.
§ 87 BetrVG beschreibt die zwingenden Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats in bestimmten sozialen Angelegenheiten. Das heißt, bei Themen, die in diesem Paragrafen genannt werden, muss der Arbeitgeber den Betriebsrat beteiligen. Kommt keine Einigung zustande, kann der Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen – eine neutrale Schlichtungsinstanz, die einen verbindlichen Beschluss fasst.
Zu den Mitbestimmungstatbeständen gehören beispielsweise:
Ordnung im Betrieb und das Verhalten der Arbeitnehmer (§ 87 Abs. 1 Nr. 1)
Fragen der Arbeitszeit (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3)
Urlaubsgrundsätze (§ 87 Abs. 1 Nr. 5)
und eben technische Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6)
Gerade der letzte Punkt ist für KI-Systeme hochrelevant, denn künstliche Intelligenz kann große Datenmengen sammeln und automatisiert auswerten. Oft besteht dabei das Risiko, dass Leistungs- oder Verhaltenskontrollen erfolgen, ohne dass Mitarbeitende dies unmittelbar bemerken.
Warum ist § 87 Abs. 1 Nr. 6 bei KI so wichtig?
KI als “technische Einrichtung” zur Verhaltens- und Leistungskontrolle
§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG stellt klar: Wenn ein Unternehmen eine neue technische Einrichtung einführt, „die geeignet ist, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen“, bedarf dies der Mitbestimmung des Betriebsrats. KI-Systeme können zum Beispiel:
Produktivitätsdaten in Echtzeit erfassen (z. B. Klickverhalten, Arbeitszeit, Interaktionshäufigkeit)
Verhaltensmuster analysieren (z. B. anhand von Kommunikationsprotokollen oder Kameraüberwachung)
Leistungsindikatoren aufbereiten, Rankings erstellen oder automatisierte Handlungsempfehlungen für Vorgesetzte generieren
All diese Funktionen bergen ein Überwachungspotenzial, das in den Mitbestimmungskreis nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 fällt. So kann bereits das bloße Vorhandensein einer Software, die bestimmte Daten automatisiert auswertet, mitbestimmungspflichtig sein – selbst wenn das Unternehmen sagt, es werde diese Daten nur zu harmlosen Zwecken nutzen.
Schutz der Persönlichkeitsrechte
Der Gesetzgeber will mit dieser Regelung die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeitenden schützen und sicherstellen, dass Transparenz herrscht, welche Daten erhoben und wie sie ausgewertet werden. Durch die Mitbestimmung kann der Betriebsrat verlangen, dass
die Zweckbindung der Daten klar definiert wird
Zugriffs- und Löschfristen geregelt sind
Mitarbeitende informiert werden, wie und zu welchem Zweck KI-Tools sie erfassen
ein Übermaß an Überwachung oder Leistungsdruck vermieden wird
Konkrete Beispiele aus der Praxis
KI-gestützte Zeiterfassung: Wenn ein System sekundengenau trackt, wann Mitarbeitende ihre Arbeit beginnen, Pausen machen und welche Aufgaben sie bearbeiten, kann dies umfangreiche Leistungsprofile erstellen. Hieraus folgt Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG.
Automatisierte Chat-/Mail-Analyse: KI kann u. a. die Stimmung in E-Mails oder Chatnachrichten („Sentiment Analysis“) erfassen. Wird dies genutzt, um Rückschlüsse auf Leistung oder Verhalten zu ziehen, ist eine Betriebsvereinbarung oder Absprache mit dem Betriebsrat notwendig.
Predictive Performance Management: Anhand von KPI-Dashboards versucht die KI, „Top-Performer“ zu identifizieren oder mögliche Fehlleistungen zu prognostizieren. Sobald die Software das Verhalten und die Leistung von Einzelpersonen greifbar macht, muss der Betriebsrat zustimmen.
§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und die Mitbestimmung bei KI-Systemen konkret:
Informations- und Beratungsphase
Der Arbeitgeber stellt dem Betriebsrat das geplante KI-System detailliert vor: Funktionsweise, erhobene Daten, technische Abläufe. Der Betriebsrat hat das Recht, Experten hinzuzuziehen, wenn die Komplexität dies erfordert.
Verhandlungsphase
Gemeinsam wird besprochen, ob und unter welchen Bedingungen das System eingeführt werden kann. Typische Regelungspunkte könnten sein:
Zweck und Einsatzzweck der KI (z. B. nur zur Personalbedarfsplanung, nicht zur individuellen Leistungsbewertung)
Datenquellen und Speicherdauer
Schutzmechanismen vor missbräuchlicher Nutzung
Verfahren bei Systemänderungen (Updates, neue Features)
Abschluss einer Betriebsvereinbarung
Häufig endet dieser Prozess in einer Betriebsvereinbarung, die rechtsverbindlich definiert, wie die KI eingesetzt werden darf. So wird sichergestellt, dass Beschäftigte transparente und faire Bedingungen vorfinden, und der Arbeitgeber hat Rechtssicherheit.
Einigungsstelle (falls keine Einigung)
Scheitern die Verhandlungen, kann der Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen. Diese entscheidet verbindlich, wie das KI-System eingeführt bzw. ob es überhaupt genutzt werden darf.
Mitbestimmung als Chance sehen, nicht als Hindernis
Viele Unternehmen sehen Mitbestimmungsrechte zunächst als bürokratische Hürde. Tatsächlich stellt § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG aber ein zentrales Schutzinstrument dar – sowohl für die Beschäftigten, die Transparenz und Datenschutz erwarten, als auch für das Management, das durch eine sauber geregelte Einführung rechtliche Sicherheit gewinnt. Denn wenn Mitarbeitende von Beginn an verstehen, wie eine KI-Anwendung funktioniert und warum sie eingeführt wird, steigt auch ihre Akzeptanz.
Warum Mitbestimmung gerade bei KI besonders wichtig ist:
Vertrauen aufbauen: Werden KI-Systeme ohne Rücksprache oder Kommunikation implementiert, löst das oft Skepsis und Ängste aus.
Fehlentwicklungen vermeiden: Der Betriebsrat kann frühzeitig auf mögliche Bias oder Datenschutzrisiken hinweisen.
Nachhaltiger Einsatz: Transparente Regelungen sorgen für eine menschenzentrierte Digitalisierung und bilden die Basis für eine langfristig positive Unternehmenskultur.
Für die unternehmerische Planung ist also der § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und die Mitbestimmung bei KI-Systemen ein zentraler Faktor, von dem Erfolg und Scheitern der Implementierung abhängen kann. Wer also in seinem Betrieb ein KI-System plant, sollte frühzeitig den Betriebsrat einbeziehen und die Mitbestimmungsrechte respektieren. So kann KI tatsächlich zur Win-Win-Situation für Unternehmen und Mitarbeiter werden, anstatt zum Konfliktthema mit unabsehbaren Folgen.